"Lily's Room"

This is an article collection between June 2007 and December 2018. Sometimes I add some recent articles too.

Today’s German poem (10)

Nächtliches Rezept für Städter” von E. Kästner (1930)

Man nehme irgendeinen Autobus.
Es kann nicht schaden, einmal umzusteigen.
Wohin, ist gleich. Das wird sich dann schon zeigen.
Doch man beachte, daß es Nacht sein muß.


In einer Gegend, die man niemals sah
(das ist entscheidened für dergleichen Fälle),
verlasse man den Autobus und stelle
sich in die Finsternis. Und warte da.


Man nehme allem, was zu sehn ist, Maß.
Den Toren, Giebeln, Bäumen und Balkonen,
den Häusern und den Menschen, die drin wohnen.
Und glaube nicht, man täte es zum Spaß.


Dann gehe man durch Straßen. Kreuz und quer.
Und folge keinem vorgefaßten Ziele.
Es gibt so viele Straßen, ach so viele!
Und hinter jeder Biegung sind es mehr.


Man nehme sich bei dem Spaziergang Zeit.
Er dient gewissermaßen höhern Zwecken.
Er soll das, was vergessen wurde, wecken.
Nach zirka einer Stunde ist’s soweit.


Dann wird es sein, als liefe man ein Jahr
durch diese Straßen, die kein Ende nehmen.
Und man beginnt, sich seiner selbst zu schämen
und seines Herzens, das verfettet war.


Nun weiß man wieder, was man wissen muß,
statt daß man in Zufriedenheit erblindet:
daß man sich in der Minderheit befindet!
Dann nehme man den letzten Autobus,
bevor er in der Dunkelheit verschwindet…

(Ende)